„Die Filme meines Lebens“ von Alberto Fuguet
Anders als bei anderen Filmen mit Altersbeschränkung (insbesondere jene, die mit einem R klassifiziert waren und die wir keinesfalls sehen konnten, wie Der Pate oder Willard ), erzählte uns Drew im Vorhinein nichts über The Poseidon Adventure. „Den müsst ihr euch selbst ansehen. Was man dabei fühlt, lässt sich nicht in Worte fassen“, erklärte er uns.
Ich werde ihm immer dankbar dafür sein, dass er es schaffte, Schweigen zu bewahren; er hatte verstanden, dass es nur eine Gelegenheit gibt, die Dinge zum ersten Mal zu genießen. Für Drew war alles Kino: Sein Leben war das Kino, außerhalb davon hatte es nicht viel Sinn. Vielleicht bemühte er sich deshalb, seine Lieblingsfilme neu zu schaffen, bevor sie ihm entglitten. Bevor es Video gab und das, was heute DVD genannt wird. Damals wurden die Filme auf zwei Arten lebendig erhalten: indem man sie anderen erzählte, und, in Drews Fall, indem er sie nachdrehte. Sein Stiefvater hatte ihm Scheinwerfer geschenkt, und er besaß die beste Super-8-Kamera, die es zu kaufen gab. Drew war nicht daran interessiert, „Trailer“ zu produzieren, er wollte die Filme wirklich neu drehen. Am besten ging es ihm, wenn er am Set bastelte, die Gardarobe zusammensuchte und sich special effects ausdachte.
Für The Poseidon Adventure rekrutierte er das ganze Viertel. Drew färbte das Wasser in der Waschwanne seiner Mutter mit Anilin ein und ließ darin ein Modell der Queen Mary schwimmen, das er bei Toys“R“us gekauft hatte. Er filmte einen Freund, wie er in einem Pool ertrank, auf dem Tassen und Gläser und Champagnerspitzen aus Plastik trieben. Patrick übernahm Hackmans Rolle, ich spielte Borgnine, meine Schwester war Pamela Sue Martin, und Leslie Melnick gab die Prostituierte. Sie trug ein Hemd von Drews Vater, und als sie nass wurde, waren wir alle fasziniert von ihren harten, großen, vorstehenden Brustwarzen.
Beim Nachstellen der Welle, die den Tanzsaal zerstört, übertraf Drew sich selbst. Gegenüber von seinem Haus, in der Garageneinfahrt, baute er eine hölzerne Plattforauf, die etwa sechs mal vier Meter maß. An einem Ende befestigte er zwei hydraulische Winden. Er stellte drei Tische, Stühle, Dekoration, einen Weihnachtsbaum, Essen, Gläser und alle Kinder aus dem Viertel in ihrem Sonntagsstaat auf die Plattform. Auf dem Garagendach vertäute Drew sechs Mülltonnen so, dass eine Art Wand aus Tonnen entstand. Dann füllte er sie mit einem langen Wasserschlauch, den er irgendwo organisiert hatte. Wenn er an der Schnur zog, würden die Mülltonnen alle gleichzeitig nach vorne kippen und vom Dach eine beträchtliche Masse Wasser wie eine Welle herunterschwappen lassen. Zwei Freunde von Drew übernahmen es, die Winde hochzudrehen. Drew filmte alles: wie wir essen, tanzen, Sylvester feiern; dann schreckerfüllte, panikgeweitete Gesichter, wir spüren, wie sich der Boden bewegt, nicht wie bei einem Erdbeben, sondern als würde er sich heben; die Gläser beginnen, von den Tischen zu gleiten, dann die Teller; die Stühle, wir selbst beginnen von der Plattform zu rutschen, und genau in diesem Augenblick hörte ich, wie die Mülltonnen kippten und innerhalb von Sekundenbruchteilen stürzte eine riesige Welle auf uns und warf uns zu Boden.
„Schnitt!“, rief Drew. „Die ist im Kasten.“
© Zebu Verlag 2005